EVERDELL : FABELHAFTE FABEL IN KNALLHARTER WIRTSCHAFTSWELT

Es war einmal ein schöner Wald, in dem kleine Tiere ein Dorf errichten wollten. Sie sammelten Holz, Kiesel und auch Harz, um imposante Gebäude zu errichten. Bewohner lockten sie mit diesen Prachtbauten an. Alternativ wurden sie mit Beeren bestochen, die sie vorher mühsam in den Büschen gesammelt hatten. Im Dorf lief es strikt nach den Planungsvorgaben des Baureferats: nach 15 Gebäuden oder Bewohner war Schluss, weswegen genau abgewogen wurde. Nach vier Jahreszeiten trafen sich die Tiere, um den besten Bürgermeister von EVERDELL zu küren.

In EVERDELL setzen wir unsere Arbeiter in Form von Tieren auf den Spielplan ein und sammeln Rohstoffe für die Karten, die wir ausspielen wollen. Diese bringen verschiedenste Vorteile: Siegpunkte, Rohstoffe oder andauernde Effekte. Es gibt klare Synergien zwischen den Karten: baut man beispielsweise eine Schule, dann kann die Karte Lehrer umsonst ausgespielt werden. In der Mitte des Spielplans gibt es die Wiese. Dort liegt ein Kartenpool, an dem wir uns gemeinsam bedienen können und diese Synergien wahrscheinlicher machen. Nach jeder Jahreszeit erhöht sich die Anzahl an Arbeitern, sodass jede weitere Runde länger wird. Besonders ist, dass jede Person die Jahreszeiten für sich spielt. Es kann im Extremfall vorkommen, dass jemand bereits die verwelkten Blätter im Herbst zählt und eine andere noch das prächtige Blühen bewundert. Der/Die beste Punktesammler*in gewinnt letzten Endes.

EVERDELL ist wunderschön anzusehen. Fabelhaft! Phantasiegeladen! Die kleinen Beeren sollte man nicht mit Süßigkeiten verwechseln und die flachen Kieselsteine ergänzen den romantischen Traum, den EVERDELL erschafft, ideal. Die Karten sind außergewöhnlich hübsch und verspielt illustriert. Ein Baum thront über dem Spielplan und ist ein weiterer Blickfang.


Diese Schönheit hat aber seinen Preis: die Kartentexte sind an einigen Stellen zu klein geraten, damit die Bilder den vollen Platz einnehmen können. Der besagte Baum nimmt die Sicht und muss jedes Mal neu aufgebaut werden. Unpraktisch! Und diese Augenweide lockt insgesamt natürlich auch Wenigspielende an. Diese werden allerdings von einem knallharten Kennerspiel überrascht bzw. -fordert. Die ersten Partien dauern schon mal über zwei Stunden und erfordern einiges an Planungsgeschick. Seltener klaffte der Kontrast zwischen Optik und Gehalt so weit auseinander wie hier. Es suggeriert vom Cover etwas anderes.

Mechanisch baut sich das Spiel langsam auf, was meine Mitspielenden frustete. Sie könnten in den ersten Jahreszeiten wenig tun, was aber vom Spiel gewollt ist. Anders als bei FLÜGELSCHLAG, bei dem man im weiteren Verlauf immer weniger Aktionen machen kann, bekommt man hier Arbeiter pro Jahreszeit dazu. Dadurch kann eine hohe Downtime entstehen, weil gerade im späteren Verlauf mehr gegrübelt werden kann. Problematisch ist die Idee, dass die Spielenden unabhängig die Jahreszeiten durchlaufen. So musste einmal ein Spieler 15 Minuten warten, während die anderen noch den Herbst zu Ende brachten.

Teilweise ist mir der Glücksanteil zu unausgewogen und steht in keinem Verhältnis mit den sonst planerischen Tätigkeiten. Wer zu Beginn eine passende Karte zieht, kann für den Rest der Partie für jede gespielte Karte eine weitere nachziehen. Bei einer anderen darf man vier Karten ziehen und davon eine umsonst ausspielen. Dies kann 1 oder 5 Punkte bedeuten und passte nicht so recht ins übrige Spielkonzept.

Dennoch kann ich es nicht widerstehen, immer wieder EVERDELL einen Besuch abzustatten. Ich weiß inzwischen, was mich erwartet. EVERDELL ist wie DISNEYLAND. Außen lässt es Kindheitserinnerungen wiederbeleben, aber im Inneren ist ein knallhartes Wirtschaftsunternehmen, das auch mal unfair sein kann.