MY ISLAND – EIN SPIEL WIE EIN ADVENTSKALENDER

Jeden Tag ein neues Türchen, jeden Tag eine freudige Überraschung. Tatsächlich könnte man MY ISLAND, den Nachfolger des 2020 zum Spiel des Jahres nominierten Titel MY CITY, mit Fug und Recht als Adventskalender auffassen. 24 Spiele stecken wie schon im Vorgänger in acht Briefumschlägen. Dieses Mal erschaffen wir allerdings keine Stadt, sondern erkunden eine Insel. Im Unterschied zum Vorgänger haben wir keine Polyominos (das sind aus zusammenhängenden Quadraten bestehende Teile), sondern unsere Plättchen bestehen aus zusammenhängenden Sechsecken.

Was erstmal wie nur ein kleiner Unterschied klingt, erhöht die Komplexität dennoch um einiges. Denn wenigstens ein Sechseck muss identisch passen, um ein neues Teil anzulegen. Die Partien dauern daher im Durchschnitt länger als bei MY CITY. Regeln verändern sich, Punktequellen variieren. Die jedem Umschlag beigelegten Anleitungen und Übersichtsblätter sind äußert hilfreich, denn es gibt immer mehr zu beachten. Eine Sache gilt in dieser, dann wieder nicht und dann doch erneut. 

MY ISLAND fühlt sich mehr wie acht eigenständige Spiele an als ein Legacy-Spiel. Ja, es werden Sticker geklebt, um den verlierenden Personen für spätere Partien einen Vorteil zu verschaffen, aber ansonsten merke ich vom Legacy-Effekt wenig. Vielmehr werden die Sticker genutzt, um den Spiel einen anderen Anstrich zu verpassen. Der Vorteil davon ist, dass man sich während des Spiels auf die neuen Aufgaben konzentrieren kann. Es ist nicht nötig, den Flow zu unterbrechen, um neue Sticker aufzukleben oder ellenlange Geschichten vorzutragen. Dieses Vorgehen trägt gerade so über die 24 Partien – aber gerade zum Ende hin hat es sich doch etwas repetitiv angefühlt. Der Autor Dr. Reiner Knizia weiß genau, wie Spiele gut funktionieren. Alle Runden waren auf den Punkt genau konstruiert. Und es gelingt durchaus, mit wenig Regeln viel Spieltiefe zu vermitteln. Allerdings hatte ich das Gefühl, diesem Konstrukt wurde eine Geschichte aufgestülpt. Der Zusammenhang der einzelnen Anteile funktionierte für mich nicht so recht. Andere Legacy-Spiele versprühen da mehr Einfälle, auch MY CITY hatte da etwas mehr zu bieten.

Insgesamt merkt man MY ISLAND seinen Erfindungsprozess an. Es wurde MY CITY als klares Vorbild genommen und kopiert. Wie bei Filmen haben es Sequels oftmals schwer, aus dem Schatten des großen Vorgänger hervorzutreten und die Erwartungen zu erfüllen. Und auch hier fühlt sich alles recht bekannt an. MY ISLAND macht seine Sache gut bis solide, aber große Überraschungen oder Oha-Momente fehlen. Um nochmal den Vergleich mit den Filmen hervorzuholen: Fans des ersten Teils werden nicht enttäuscht. Sie bekommen serviert, was ihnen gefallen hat. Aber bedenkt, es macht es genau gleich. Und wenn MY CITY eurer erstes Legacy-Spiel war, bedenkt: das nutzt sich ab.

Löblich ist, dass daran gedacht wurde, dass eine 2-Personen-Kampagne erneut gespielt werden kann. Die dafür benötigten Sticker sind dem letzten Umschlag beigelegt.
Übrigens: das Ende von MY ISLAND gibt meiner Einschätzung nach einen klaren Hinweis auf einen dritten Teil. Und ich wäre bereit: meine Koffer sind gepackt.